Drache oder Einhorn

Titelbild Drache oder Einhorn Lenni und Pedro vor einer Höhle

Lenni und Pedro machen mit ihren Eltern einen Ausflug. Das Ziel ist geheim! Hat es womöglich mit den Gerüchten zu tun, die sie über den Wald gehört haben? Oder geht da die Fantasie mit ihnen durch?

Lenni und seinem Papa flogen Federbälle, Handschuhe, Hüpfseile, Knieschoner, Kinderstelzen, Schirmkappen, Fahrradschlösser, Skisocken, Regenschirme und Stofftaschen vor die Füße.
»Ich bin sicher, dass mein Helm hier irgendwo steckt!«, behauptete Lennis neuer Bruder Pedro und weitere Gegenstände landeten im Flur.
»Kann ja sein, aber bei dem ganzen Krempel kannst du lange suchen!«, bemerkte Lenni. »In unserer Wohnung hatten wir nur das im Flur, was wir täglich brauchten. Alles andere haben wir im Kleiderschrank verstaut oder aussortiert.«
Pedro zog seinen Kopf aus der Kiste und warf Lenni einen genervten Blick zu. »Wir haben doch genug Platz in unserem Haus, warum sollten wir Dinge wegwerfen, die wir später vielleicht noch mal brauchen.« Dann wühlte er weiter.
Lenni und sein Papa waren erst vor kurzem aus ihrer winzigen Stadtwohnung in das Landhaus von Pedro und seiner Mama gezogen. Das war bis unter die Dachbalken mit altem Kram vollgestopft.
»Hab ihn!« Pedro schwenkte triumphierend ein orangenes Fundstück über dem Kopf. »Sag ich doch, dass der hier ist!«
»Na dann kommt endlich!«, drängte Lennis Papa und scheuchte die beiden hinaus in die lauwarme Sommerluft.
Pedros Mama wartete mit den Fahrrädern. Die Jungs wussten nicht, wo es hinging. Seit gestern Abend probierten sie, etwas herauszufinden. Doch weder beim Essen, Zähneputzen noch beim Gute-Nacht-Sagen hatten sie Erfolg gehabt. Dabei hatten sie es mit allen Mitteln versucht: mit Bitten, Betteln und komischen Ideen, um ihren Eltern Einzelheiten zu entlocken. Pedro hatte gefragt, ob sie eine Skihose brauchten, obwohl es Sommer war. Leider hielten sie nicht dagegen, indem sie Badehosen vorschlugen. Lenni hatte verkündet, eine Sauerstoffmaske einzupacken, für den Fall, dass sie tauchen mussten oder zum Mond flogen. Bei der Idee hatten sich ihre Eltern kurz angesehen und dann die Köpfe geschüttelt. Die Jungs ahnten nur, dass sie etwas Besonderes geplant hatten, weil das ihr erster gemeinsamer Ausflug war, seit sie zusammengezogen waren.
*
Ein Trampelpfad führte sie auf den Feldweg, der in dieser Jahreszeit zwischen goldgelben Haferähren hindurchführte. Pedro, der das Schlusslicht ihrer Kolonne war, scherte aus und schloss zu Lenni auf. »Wetten, dass ich den Drachen finde?«
»Welchen Drachen?«, rief Lenni ihm hinterher, bekam aber keine Antwort. Hatte er sich verhört? »Warte!« Er trat kräftig in die Pedale und sauste ebenfalls an ihren Eltern vorbei.
Bald hatte er Pedro eingeholt. »Welchen Drachen meinst du?«, schnaufte er, ohne den Kopf zu drehen.
»Den im Wald«, gab der knapp zurück. Als Lenni nun doch kurz aufschaute, ergänzte Pedro: »In der Schule haben sie darüber gesprochen, dass hier ein Drache wohnt. Der schnarcht angeblich so laut, dass er nachts im Dorf zu hören ist.«
Lennis Augen weiteten sich. »Hast du ihn auch schon gehört?«
»Nee, dein Schnarchen übertönt jedes Ungeheuer!«, brummte Pedro und legte einen Zahn zu.
Schweigend lieferten sie sich ein Helm-an-Helm-Rennen. Bis jetzt war es irgendwie schwierig zwischen ihnen. Als wären sie zu verschieden. Dabei waren sie gleich groß, gleich alt und gleich schnell. Vielleicht lag es daran, dass sich sein Stiefbruder hier besser auskannte. Für Lenni war alles neu. In der Schule trottete er dauernd hinter ihm her. Außerdem musste er Pedro jede Info aus der Nase ziehen.
Als grüne Nadelbäume die goldgelben Ähren ablösten, bremsten sie.
»Du denkst, da lebt tatsächlich ein Drache im Wald?«, japste Lenni.
Die Frage hing in der Luft, bis ihre Atmung sich beruhigt hatte. Dann tauchten ihre Eltern auf. Ach ja, auch die waren ihnen noch eine Antwort schuldig.
»Rückt ihr endlich damit raus, was wir heute machen?«, fragte Pedro hoffnungsvoll.
Seine Mama schüttelte grinsend den Kopf. »Nein, aber ich kann euch den Weg beschreiben.«
Beide Jungs nickten kräftig.
»Also gut. Ihr fahrt bis zu der Kreuzung mit dem Waldbrunnen. Der mit den Wildschweinfiguren. Pedro kennt den. Dort biegt ihr rechts ab und müsst nur noch geradeaus. Der Weg führt zu einer Waldlichtung. Die könnt ihr nicht verfehlen.«
»Alles klar!« Pedro wandte sich grinsend an Lenni. »Wetten, dass ich den Drachen finde!« Schon stob er davon.
»Oder ich finde Einhörner!«, rief Lenni und raste mit wehendem Pferdeschwanz hinterher. Um ihn aufzuklären, was es mit den Einhörnern auf sich hatte, musste er Pedro erst mal einholen.
Kurz vor dem Wildschweinbrunnen schob er sich endlich neben ihn. Gemeinsam legten sie sich in die Kurve. Rasch wurde das Knirschen von Pedros Reifen leiser. Verflixt! Links und rechts brachte Lenni öfter durcheinander. Er bremste scharf, machte in einer Staubwolke kehrt und nahm die Verfolgung auf. Er trat kräftig in die Pedale, aber der Abstand zwischen ihren Rädern wuchs. Als wolle Pedro ihn endgültig abhängen. Lenni gab nun alles. Tannen und Fichten flitzten an ihm vorbei. Bald schmerzten seine Beine. Doch allmählich holte er auf. Der orangene Helm war zum Greifen nah, da preschte ein Eichhörnchen aus dem Wald und kreuzte ihren Weg. Pedro legte eine Vollbremsung ein und Lenni verfehlte ihn um Helmesbreite.
»Das war knapp! Bist du okay?«
Pedro nickte beklommen. Das rotbraune Nagetier war längst verschwunden.
Lenni wollte Pedro gerade auf ihr verrücktes Rennen ansprechen, da lenkte ihn ein Brummen ab. Ein Geländewagen kam angerollt.
»Komm«, rief Pedro und sie schoben ihre Räder zwischen die Bäume.
Augenblicke später brauste der Wagen an ihnen vorbei. Sein Anhänger überragte das Autodach um mindestens eine Fahrradhöhe.
»Meinst du, der ist auch auf Drachenjagd?«, fragte Lenni.
»Keine Ahnung!« Pedro lehnte sein Rad an eine Kiefer. »Warum hast du eben von Einhörnern gesprochen?«
»Kurz bevor wir hergezogen sind, wollte ich wissen, wo es hingeht. Deshalb haben Papa und ich euer Dorf im Internet eingegeben.« Lenni lehnte sein Rad auf die andere Seite der Kiefer. »Auf einem Blog stand, dass hier Einhörner leben.«
Pedro kniff die Augen zusammen. »Erst Drachen, jetzt Einhörner?« Er nahm den Helm ab und fuhr sich durch das plattgedrückte Stoppelhaar. »Das kannst du den Ameisen erzählen!«
»Welchen Ameisen?« Lenni war nicht sicher, ob das ein Sprichwort war. Er starrte Pedro mit hochgezogenen Augenbrauen an. Doch der deutete nur auf den Boden.
Da verlief eine Ameisenstraße. Lenni hatte ihren Weg unterbrochen. Nun marschierten unzählige Krabbeltierchen quer über seinen Turnschuh, auf einer Seite herauf und auf der anderen hinunter. Er zog eine Grimasse, sprang auf und hüpfte wie wild umher, um sie loszuwerden. Pedro lachte darüber, bis auch er Ameisen auf seinen Schuhen entdeckte. Er sprang ebenfalls auf, um sie abzuschütteln.
*
»Wollen wir weiter?« Lenni blickte sich um. Ihre Eltern waren noch nicht in Sichtweite.
»Warte!« Pedro hob eine Hand. »Hörst du das?«
Auch Lenni hörte ein Geräusch. Es klang nicht wie das Brummen eines Autos, eher wie ein Schnaufen. Sofort hatte er das Bild eines schlafenden Drachen im Kopf, dem Feuerwölkchen aus den Nasenlöchern stoben. Lenni spähte ins Unterholz, entdeckte aber nur gewöhnliche Nadelbäume, die den Duft von Harz verströmten. »Lass uns schauen, wo das Schnarchen herkommt«, schlug er Pedro vor.
Der nickte. Also tauschte Lenni Helm gegen Mütze. Die trug er Sommer wie Winter – außer natürlich, wenn er einen Helm aufhatte. Dann schloss er ihre Räder aneinander.
*
Sie waren nicht weit gelaufen, da stoppte Lenni vor einem Felsbrocken. »Hey, wo kommt der plötzlich her?« Getrocknetes Moos führte zu einer Felsspalte. »Hier ist ein richtiger Tunnel!«, rief er überrascht.
»Wetten, dass dort drinnen ein Drache lebt?«, raunte Pedro dicht hinter ihm.
»Quatsch!«, erwiderte Lenni, »dort leben Einhörner!«
»Die Wette steht! Aber dürfen wir da einfach rein?«
Sie untersuchten den Tunneleingang und entdeckten ein verwittertes Schild: Betreten der Höhle auf eigene Gefahr!
»Verboten ist es also nicht«, erklärte Lenni und damit war die Entscheidung gefällt.
Schritt für Schritt wagten sie sich in den Tunnel, der rasch enger und niedriger wurde. Schließlich mussten sie krabbeln. Spitze Steinchen bohrten sich in ihre Knie. Aber das war es sicher wert, wenn sie Drachen und Einhörner fanden. Nach ein paar weiteren Metern wurde der Gang wieder höher und breiter, doch sie sahen kaum etwas.
»Ist kühl hier«, flüsterte Pedro aufgeregt, »genau das Richtige für einen Drachen!«
»Wenn du weiter wie ein Drache schnaufst, lockst du ganz bestimmt einen an«, zog Lenni ihn auf.
»Dafür stinke ich nicht nach Einhorn«, neckte Pedro zurück.
»Wie riechen denn Einhörner?«
Statt einer Antwort hörte Lenni das Schnappen einer Schnalle. »Ganz schön voll hier drin«, murmelte Pedro. Wahrscheinlich meinte er seinen Rucksack. Wenig später drang ein »hab sie!« durch den Raum und der Lichtkegel seiner Fahrradlampe durchbrach die Dunkelheit.
»Wow«, flüstere Lenni, »das ist ja wie im Märchen!« Sein Blick glitt über sonderbare Spitzen, die aus dem Boden wuchsen und von der Decke hingen. Als habe jemand gekochte Spagetti zum Trocknen aufgehängt.
»Das ist eine Tropfsteinhöhle«, klärte Pedro ihn auf. »Die gibt es in der Gegend öfter. Wenn Regenwasser in die Erde sickert, tropft es in die Höhle. Das Wasser verdunstet und übrig bleibt der Kalk.« Der Lichtkegel wanderte weiter. »So wachsen Stalaktiten von oben und Stalagmiten von unten, bis sie sich eines Tages treffen.«
»Wollen wir so lange warten?«, fragte Lenni, der gerne sehen wollte, wie die Kalk-Spagetti zusammenwuchsen.
»Klaro.« Er hörte ein Grinsen in Pedros Stimme. »Kann halt tausend Jahre dauern.«
Lenni kniff nachdenklich die Augen zusammen und entschied: »Dann lass uns später noch mal nachsehen.«
Sie lachten. Damit mussten sie etwas aufgescheucht haben. Denn dieses Etwas flog plötzlich auf sie zu und nur knapp über Lennis Mütze hinweg. Er duckte sich blitzschnell, stieß gegen Pedro und brachte sie beide zu Fall.
»`Tschuldigung!«, murmelte Lenni und rappelte sich auf.
Pedro griff nach der Fahrradlampe, die ihm aus der Hand gerutscht war. Zum Glück funktionierte sie noch. »Schon gut.« Er beleuchtete den Missetäter, der jetzt regungslos an einer Wand hing.
»Das ist kein Mini-Drache, oder?«, fragte Lenni.
»Nein, das ist eine Fledermaus!«, erwiderte Pedro. »Diese Drachen-Einhörner-Sache ist doch Blödsinn! Wer weiß, was die Leute wirklich gehört und gesehen haben.«
»Hast recht!« Lenni nickte. »Lass uns zurückgehen. Mama und Papa warten sicher schon.«
Sie bestaunten ein letztes Mal die Tropfsteinhöhle – die nur zu gut in eine Welt voller Einhörnern und Drachen gepasst hätte – und krochen zurück ins Warme.
*
»Pst!« Lenni legte einen Finger an den Mund.
Da war wieder das Geräusch von vorhin. Als fege Wind durch den Wald. Aber die Kiefern neben ihnen ließen entspannt die Zweige hängen.
»Klingt wie ein Wasserfall«, grübelte Pedro, »aber es gibt hier keinen Fluss.«
»Und keine Berge«, ergänzte Lenni, »von denen das Wasser fallen könnte. Außerdem hört das Rauschen zwischendurch auf. Ich hab noch nie von einem Wasserfall gehört, der ein- und ausgeschaltet wird!«
Während sie durch das Unterholz stapften, kam und ging das unbekannte Geräusch und wurde stetig lauter.
Da kam Lenni ein Gedanke. »Vielleicht lebt hier doch ein Drache!« Jetzt war er sich nicht mehr sicher, ob das alles Quatsch war. Irgendwas oder irgendwer musste schließlich diesen Lärm machen.
»Das finden wir heraus!« Pedro kletterte auf einen umgefallenen Baumstamm und schirmte seine Augen vor der Sonne ab. »Ich seh` was!«, rief er aufgeregt. »Farben! Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau …«, fing er an, sie aufzuzählen.
»Klingt nach Regenbogen«, wisperte Lenni. Sein Blick schweifte gen Himmel, auch wenn das unsinnig war. Dort strahlte zwar die Sonne, aber es hatte nicht geregnet.
»Sag mal …«, Pedro räusperte sich und vollendete dann seine Frage, »… sind Einhörner bunt?«
Lenni riss die Augen auf. »Die haben bunte Flügel – glaub ich zumindest.« Er hopste aufgeregt zu Pedro auf den Baumstamm. Nun konnte auch er die leuchtenden Farben sehen. Seine Fantasie ergänzte glitzernde Hörner und wehende Mähnen.
»Sollen wir näher ran?«
Pedro nickte, glitt vom Baumstamm und schlich wie ein Luchs durchs Unterholz. Lenni folgte ihm. Da verfing sich sein Schnürsenkel im Dornengestrüpp. Verzweifelt zog er an seinem Bein, kam aber nicht frei. Nicht weit von ihnen ertönte wieder das unheimliche Schnaufen. Was sollte er bloß tun, wenn jetzt ein Drache vorbeikam, schoss es ihm durch den Kopf. Oder Einhörner. Wer wusste schon, ob die so lieb waren, wie sie aussahen. Da nahm er eine Bewegung neben sich wahr und hob seine Hände, damit er sich notfalls wehren konnte. Erleichtert erkannte er Pedro, der zu ihm zurückgekommen war. Er zog ein Schnitzmesser aus der Hosentasche und löste den Schnürsenkel von der Dornenranke. »Komm, wir bleiben zusammen«, raunte er.
In dem Moment wurde Lenni klar, dass er von nun an einen Bruder hatte, auf den er sich verlassen konnte. Bisher hatte er nur Papa gehabt. Doch jetzt war da auch Pedro. Und dass der immer so viel Kram dabei hatte, war echt praktisch. Lenni klopfte sich lächelnd das Laub von der Hose. Zusammen mit Pedros Mama waren sie eine richtig große Familie.
Ein weiteres lautes Schnaufen ließ sie zusammenzucken. Pedro nickte in die Richtung, aus der es gekommen war, und gemeinsam schlichen sie darauf zu.
Sie waren nicht weit gelaufen, da teilten sich die Bäume vor ihnen und sie landeten auf einer Lichtung. Von der musste Pedros Mama gesprochen haben. In der Mitte stand etwas, so farbenprächtig wie ein ausgewachsenes Einhorn und so donnernd wie ein fauchender Drache.
»Das ist …«, begann Lenni.
»… kein Drache!«, vollendete Pedro den Satz.
»Und auch kein Einhorn!«, ergänzte Lenni.
Vor ihnen stand der Geländewagen mit dem großen Anhänger und daneben ein prall gefüllter Heißluftballon in schillernden Regenbogenfarben. Gerade schoss eine Flamme aus dem Gasbrenner, um die Luft im Balloninneren zu erwärmen. Der machte also den Lärm!
Am Korb des Ballons standen ihre Eltern und winkten hektisch. Was sie dabei riefen, konnten sie bei dem Krach nicht verstehen. Aber ihren Gesichtern nach, hieß es so viel wie: Wenn ihr nicht augenblicklich eure Hintern her bewegt, heben wir ohne euch ab!
»Wetten, dass wir schneller als Einhörner zum Ballon galoppieren?«, behauptete Pedro.
»Wetten, dass wir damit höher als Drachen fliegen?«, erwiderte Lenni.
Sie nickten sich grinsend zu. Dann rannten sie über die Sommerwiese, ihrem nächsten Abenteuer entgegen.