Die wilde Hilde

Titelbild Die wilde Hilde Yumi Cosmo

Yumi und Cosmo bleiben heute alleine zuhause. Beim letzten Mal ist das mächtig schiefgelaufen. Deshalb geben sie sich besonders Mühe. Doch bald schon müssen sie eine schwierige Entscheidung treffen.

Yumi und Cosmo umarmten ihre Eltern zum Abschied.
»Wenn ihr uns braucht, ruft auf dem Handy an«, wandte sich Mama an Yumi. »In zwei Stunden sind wir wieder zurück, dann kümmern wir uns um dein Referat. Ich hab da so eine Idee.« Yumi lächelte gequält.
Auch Mami hatte nun ihren Rucksack geschultert: »Bitte passt gut auf euch auf!« Ihr Blick wanderte über Cosmos rechten Arm hinauf zu den verschmitzten Augen. »Das Arbeitszimmer ist tabu!«
»Ich bin ganz brav«, versicherte Yumi. Für ihren jüngeren Bruder würde sie ihre Hand sicher nicht ins Feuer legen.
Doch auch Cosmo beteuerte: »Wir machen wirklich keinen Blödsinn!«, und scheuchte ihre Mütter endgültig hinaus.
Yumi sprang ins Wohnzimmer, wo sie durch die Fenstergitter lugte. Es hatte den ganzen Morgen über geregnet. Doch jetzt brach die Sonne zwischen den Wolken hervor und es entstand ein Regenbogen. Die liebte sie besonders, vielleicht weil sie in einer Regenbogenfamilie lebte. Unter ihr tauchten zwei Haarschöpfe auf, Mamis rotblonder und Mamas tiefschwarzer.
»Was machen wir jetzt?«, schnaufte plötzlich eine Stimme hinter ihr. Yumi löste ihren Blick vom Fenster und entdeckte Cosmo wie er auf dem Sofa turnte.
»Wir sollen doch keinen Quatsch machen«, rief sie und sah ihn so streng an, wie sie konnte. Leider nicht sehr überzeugend.
Cosmo hopste noch drei Mal auf und ab. Dann sprang er im hohen Bogen von seinem Trampolin in einen Wäschekorb mit frischen Socken. »Ich will Rollerfahren!«
Yumi schüttelte den Kopf. »Die Straßen sind noch nass und ich hab versprochen, dass wir drinnen bleiben.«
»Okay. Wir könnten ein Schiff mit Ausguck bauen und nach Piraten Ausschau halten!« Seine braunen Augen lugten unschuldig hinter schwarzen Ponyfransen hervor.
Yumi starrte ihn finster an. Das war ja wie eine Einladung für Unfälle! »Wie wäre es mit Malen?«, schlug sie vor. Das war das Ungefährlichste, was ihr auf die Schnelle einfiel.
Cosmo warf sich auf den Wollteppich, alle viere von sich gestreckt und starrte zu seiner Schwester hinauf. »Jetzt ehrlich? Wir haben die ganze Wohnung für uns und du denkst an Malen?«, maulte er. »Ich will lieber ein Abenteuer!« Er konnte ja nicht ahnen, wie bald sich sein Wunsch erfüllen würde. Trotzdem hellte sich sein Gesicht schlagartig auf. »Lass uns den Flur verschönern. Mami hat gesagt, der muss gestrichen werden.«
Yumi ließ sich auf einen Sessel fallen und seufzte genervt. Die Wanduhr zeigte jetzt fünf nach zehn. Cosmo konnte also noch eine ganze Stunde und fünfundfünfzig Minuten Blödsinn machen.
»Reingefallen!« Ihr Bruder grinste breit. »Du bist echt eine Angstkatze! Ich hole meine Wasserfarben.« Er schnellte wie eine Sprungfeder vom Teppich und flitzte in sein Zimmer.
»Das heißt Angsthase«, murmelte Yumi. Leider hatte ihr Bruder recht. Sie hatte oft Angst und war heilfroh, dass er sich auf Malen eingelassen hatte.
Schon standen Farbkästen, Pinsel und ein Wasserglas auf dem Couchtisch.
»Jetzt fehlt nur noch Papier. Wo ist das denn?« Cosmo legte eine Hand ans Kinn und mimte ein übertrieben nachdenkliches Gesicht.
»Das ist im …«, Yumi sprach den Satz nicht zu Ende. Das Papier lag nämlich …
»… im Arbeitszimmer!«, rief Cosmo. »Dürfen wir da überhaupt rein?« Ein listiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Willst du doch lieber ein Schiff mit Ausguck bauen?«
Yumi holte tief Luft. »Wir machen es so«, sie sah ihn eindringlich an, »du bleibst hier und wartest! Ich hole das Papier.«
Cosmo nickte.
*
Die Türklinke zum Arbeitszimmer knarzte empört. Zumindest kam es Yumi so vor. Als sie das letzte Mal alleine waren, hatte ihr Bruder den Raum zum Urwald erklärt. Wie ein Äffchen hatte er sich von Regal zu Regal, über den Drehstuhl zum Schreibtisch geschwungen. Dort war er mitsamt Mamas Laptop quer über die Tischplatte geschlittert und mit dem Arm auf den Heizkörper geknallt. Der Laptop war mit einer Delle davongekommen. Aber Cosmo musste in die Notaufnahme. Danach hatte er seinen Arm ganze vier Wochen in einer Schiene getragen. Natürlich hatte auch Yumi Ärger bekommen, weil sie Cosmo nicht aufgehalten hatte.
Was war das für ein Klopfen? Yumi erstarrte auf halbem Weg zum Regal. Ihr schuldbewusstes Herz war es nicht, auch wenn das jetzt wild gegen den Rippenbogen hämmerte. Hinter ihr gluckste es. Cosmo stand an der Tür und bog sich hin und her.
»Das ist nicht witzig!«, schnaubte Yumi.
»Irgendwie schon«, japste Cosmo.
Seine Schwester drehte sich zurück zum Regal. Wieder das Klopfen. Jetzt hatte Yumi die Nase voll. Sie schnellte herum und schnauzte: »Hör endlich auf, sonst male ich nicht mit.« Aber ihr Bruder hatte ohnehin schon aufgehört zu lachen. Er sah sogar überraschend blass aus.
»Das war ich nicht!«, stammelte er. »Das kam von dort drüben.« Er deutete auf eine Ecke, in der sich Kartons stapelten. Der Turm schwankte leicht. »Lass uns abhauen«, quietschte Cosmo und zerrte an Yumis Arm.
Doch die wehrte sich. »Was ist, wenn die Kisten umfallen? Vielleicht ist da eine von Mamas Erfindungen drin. Die geht dann kaputt!« Ihre Mama war Ingenieurin für Elektrotechnik und erfand unheimlich wichtige und oft geheime Dinge. Yumi gab sich einen Ruck. »Wir müssen nachsehen!«
Cosmo starrte sie an.
»Was ist?«
»Jetzt bin ich der Angstkater!«
»Angsthase!«, verbesserte Yumi, aber auch ihr war nicht wohl bei der Sache. Vielleicht sollten sie lieber doch nicht … Das nächste Poltern erschütterte den Kistenturm. Ohne darüber nachzudenken, packte Yumi zu und verhinderte, dass der oberste Karton zu Boden stürzte. Mit zitternden Händen setzte sie ihn auf den Teppich ab.
Eine Weile saßen die Geschwister regungslos da und starrten die Pappe an. Die Kiste war etwas größer als Yumis Schultasche und eine Seite zierten kleine Symbole. Darunter ein Glas und ein Regenschirm.
Yumi schielte zu ihrem Bruder. Spielte Cosmo ihr doch nur einen Streich? Aber seine wachsamen Augen sahen genauso gespannt aus, wie sie sich fühlte. Und wie hätte er das mit der Kiste überhaupt anstellen sollen.
Plötzlich schwang der Deckel auf und dunkle Kulleraugen linsten über die Pappwand. Sie gehörten zu einem grauen kugelrunden Kopf und wanderten zwischen den Geschwistern hin und her.
»Was ist denn das?«, hauchte Cosmo. »Das ist kein Kind, aber auch kein Tier.«
Yumi hatte es die Sprache verschlagen, doch das Wesen klärte ihn auf. »Hallo, ich bin ein Roboter!« Die Stimme klang hoch und elektronisch. »Gib mir einen Namen!«
Als Cosmo blinzelte, zwinkerten die Kulleraugen zurück. Der Roboter streckte nun den Kopf aus der Kiste und offenbarte einen orangenen Oberkörper mit dürren Ärmchen.
»Hilde!«, wisperte Cosmo.
Der Kugelkopf wippte vor und zurück. »Hilde ist ein ausgezeichneter Name!«
»Warum hast du den Roboter Hilde genannt?«, fragte Yumi verdutzt, nachdem sie ihre Stimme wiedergefunden hatte.
»Ich hab an Tante Hilde gedacht«, sagte Cosmo. »Die trägt doch so gerne orangene Strickjacken!« Er neigte sich vor und schnupperte. »Diese Hilde riecht aber nicht nach Vanille, eher wie ein neues Auto.« Er zuckte mit den Schultern. »Können wir mit ihr spielen?«
»Auf keinen Fall!«, rief Yumi entgeistert. »Wir wissen doch nicht, was Hilde in unserer Wohnung anstellt!«
Wie aufs Stichwort stieg der Roboter aus seiner Kiste und ächzte dabei, wie ihre echte Tante Hilde. Natürlich knarzten nur die Scharniere. Es gab viele davon. Überall dort, wo Menschen Gelenke besaßen. Handgelenke, Ellbogen, Schultern und so weiter. Selbst die Hände hatten drei Fingerglieder an allen zehn Fingern.
»Ich glaube, du hast sie auf eine Idee gebracht.« Cosmo grinste.
»Ich möchte deine Wohnung sehen!«, bestätigte Hilde mit ihrer elektronischen Stimme und marschierte durch die Tür.
»Los, hinterher!«, rief Cosmo.
Sie hechteten hinter Hilde her, als verfolgten sie einen ausgebüchsten Hamster. Der Roboter stapfte unbeirrt am Schuhregal entlang, über die Fußmatte, vorbei am Garderobenständer und hinein ins Wohnzimmer.
Cosmo knallte die Tür hinter sich zu. »Hoho, hiergeblieben!« Er stellte sich tapfer wie ein Ritter vor die Türklinke.
Hilde störte das nicht im Geringsten. Gemächlich durchquerte sie den Raum. Jeder Schritt erzeugte ein kräftiges Klacken auf den Fliesen, begleitet vom Scharren der Robotergelenke. Kein einziges Mal stieß sie gegen eine Wand. Auch Stuhlbeinen wich sie geschickt aus.
»Was macht sie da?«, fragte Cosmo verwirrt, während sein Kopf hin und her schwang, jedem Richtungswechsel folgend.
»Sie lernt unser Wohnzimmer kennen«, mutmaßte Yumi, die ihre Brille zurechtschob. Der Staubsaugerroboter war auch durch die gesamte Wohnung gerollt, als er neu war. Mama hatte damals über Kollisionssensoren gesprochen. Yumi hatte das so verstanden, dass der Saugroboter die hatte, damit er nicht gegen die Wand fuhr. »Wenn Hilde das ganze Zimmer abgelaufen ist, weiß sie, wo die Wände und die Möbel stehen. Dann speichert sie die Informationen wie eine Landkarte.«
»Ich sehe keine Karte!« Cosmo starrte der Roboterdame ungläubig hinterher. Die kniete sich gerade hin, um auf allen vieren unter einem Stuhl hindurchzukrabbeln. Auf der anderen Seite angekommen, rappelte sie sich wieder auf.
»Die kann man doch nicht sehen! Roboter sind wie Computer. Da wird alles digital gespeichert. Ein Handy spuckt auch keine Papierfotos aus.«
»Aha, und wofür ist die Kuhle am Rücken?«, fragte ihr Bruder weiter.
Yumi zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Wir sollten Hilde jetzt besser einfangen.«
»Ich spiele gerne fangen«, piepste Hilde und rannte los. Doch ihre Kunststofffüße rutschten auf den glatten Fliesen aus und sie krachte mit der Stirn voran auf den harten Boden. Da nützten wohl auch keine Kollisionssensoren!
Cosmo stürzte auf sie zu. »Hast du dir wehgetan?«, fragte er mitfühlend und half ihr auf.
»Hoppla«, sagte Hilde unbeeindruckt. Ihre Augen zwinkerten.
»Die kann sich nicht wehtun!«, klärte Yumi ihn auf. »Roboter haben keine Schmerzen. Aber sie können kaputtgehen!« Sie befühlte Hildes Kugelkopf und stellte erleichtert fest, dass nirgendwo ein Riss war. »Wir sollten sie ausschalten, bevor was kaputtgeht.« Wenn sie nur wüssten, wie.
»Nein, bitte nicht ausschalten«, rief Cosmo flehend. »Sie will das sicher auch nicht!« Es klang, als würde er eine Freundin verteidigen. »Weißt du noch etwas über Roboter?«
Yumi kniff nachdenklich die Augen zusammen: »Sie werden gebaut, um Arbeit zu erledigen, die sonst Menschen tun. Sowas wie Staubsaugen, Rasenmähen oder Fensterputzen.«
»Nee, sie hat ja weder Rohre noch Klingen. Und schon gar keinen Putzlappen«, widersprach ihr Bruder fachmännisch.
Da klaubte Hilde eine gestreifte Socke aus dem Wäschekorb und überreichte sie dem verblüfften Cosmo. »Hier ist ein Putzlappen.«
»Oh, danke!«
»Für einen Industrieroboter hat Hilde nicht genug Kraft«, fuhr Yumi unbeirrt fort. »Die würde glatt umfallen. Sie könnte ein Pflegeroboter sein.«
»Was machen die denn?« Cosmo zog sich die Ringelsocke über die Hand.
»Die helfen uns bei Dingen, die wir nicht selbst erledigen können. Wenn ein kranker Mensch Durst bekommt, könnte Hilde ein Glas Wasser holen.«
Kaum hatte Yumi die Worte ausgesprochen, drehte sich Hilde zum Couchtisch. »Hier ist etwas zu trinken!« Sie hob das Wasserglas an, das zum Auswaschen der Pinsel bestimmt war. Doch bei der Übergabe stieß ihr harter Greifarm gegen Yumis weiche Hand. Das Glas rutschte heraus und Wasser überschwemmte den Teppich.
»Achtung«, kommentierte Hilde das Missgeschick, »ich darf nicht nass werden!«
Yumi erinnerte sich an den Regenschirm auf dem Pappkarton. „Wir brauchen ein Handtuch!“
»Wird erledigt.« Hilde setzte sich in Bewegung. Der feuchte Teppich schmatzte unter ihrem Gewicht. Sie erreichte den Esstisch und zog mit einem Ruck das Tischtuch herunter. Metall blitzte auf, dann ertönte ein ohrenbetäubendes Scheppern. Die Obstschale hatte Cosmo um Haaresbreite verfehlt und Äpfel kullerten in alle Richtungen. Hilde störte der Tumult offenbar nicht. Sie drückte das Tuch auf den Teppich, das sich augenblicklich mit Wasser vollsog.
Yumi schloss für einen Moment die Augen. In welche Katastrophe waren sie dieses Mal geschlittert? Hoffentlich kamen ihre Eltern nicht früher zurück! Als Yumi die Augen wieder öffnete, sah sie noch, wie Cosmo die klobigen Roboterfüße mit dem Ringelsockenhandschuh trockenrieb.
»Ist ja nix Schlimmes passiert!«, beruhigte er seine Schwester. »Hilde wollte nur helfen! Wieso versteht die eigentlich alles, was wir sagen?«
Darüber hatte Yumi auch schon nachgedacht. »Ich glaube, sie hat ein Mikrofon eingebaut. Damit kann sie hören. Mit einer Kamera kann sie sehen und über Lautsprecher sprechen. Außerdem hat sie eine Menge Wörter und Bilder abgespeichert. Sie hat ja direkt das Glas erkannt.«
»Sie wusste aber nicht, dass es für die Pinsel ist«, bemerkte Cosmo.
»Ich weiß, dass mit Pinseln gemalt wird«, tönte es plötzlich neben ihnen. Hilde stakste über das Tischtuch, schnappte sich einen Pinsel und fuhr damit durchs Deckweiß.
»Leg den Pinsel wieder hin«, seufzte Yumi. Aber das war ein Fehler! Denn Hilde wollte ihre Beute auf dem Sofa ablegen. Auf dem funkelnagelneuen Sofa! Yumi stockte der Atem.
In letzter Sekunde warf sich Cosmo zwischen Hilde und den dunkelblauen Stoff. Dabei fing er die Farbe mit der Nase ab. »Gerettet!«, triumphierte er. »Ich bin abwaschbar!«
Yumi lächelte müde. Sie entwendete den Pinsel aus den Greifern der Roboterdame und warf ihn ins leere Wasserglas. Von wegen, malen war ungefährlich. Wie sie sich da getäuscht hatte!
Die Türklingel riss Yumi aus ihren Gedanken. Es folgte Klopfen. Das musste Herr Bektas sein. Der wohnte unter ihnen und hatte bei Cosmos Urwald-Unfall den Krankenwagen gerufen.
»Du bleibst bei Hilde!«, entschied Yumi und eilte in den Flur.
Tatsächlich stand ihr Nachbar vor der Tür.
»Ähm, hallo!« Yumi zwang sich zu einem Lächeln.
Herr Bektas wirkte beunruhigt. »Ich habe Lärm gehört und wollte fragen, ob ihr Hilfe braucht.«
»Nein, nein, alles bestens!«, versicherte Yumi. »Cosmo ist die Obstschale vom Tisch gefallen.«
Das schien den Nachbarn zu beruhigen. »Dann ist es ja gut.« Er wollte sich gerade verabschieden, als Musik einsetzte. Ein Hochzeitswalzer. Er hob fragend die Augenbrauen.
Yumi zupfte nervös an einer Haarsträhne. Der Walzer brach ab. Nun drang der wummernde Bass eines Heavy-Metal-Stücks zu ihnen. Die Brauen von Herrn Bektas stiegen nun bis zum Haaransatz.
»Ich muss wieder rüber!« Yumi musste brüllen, damit ihr Nachbar sie verstand. Dann schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu. Nicht die feine Art, würde Tante Hilde dazu sagen. Aber das hier war ein Notfall. Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte zurück ins Wohnzimmer, wo Cosmo und Hilde tanzten! Oder etwas in der Art. Es sah mehr so aus, als boxten sie Löcher in die Luft. Dabei stießen sie gegen das Bücherregal und ein Schwung Bildbände flog heraus.
»Stopp!«, schrie Yumi.
Hilde hielt augenblicklich inne, als wäre sie eingefroren und Cosmo drehte die Musik leiser. Beide starrten sie aus großen Kulleraugen an.
»Man kann euch keine Minute alleine lassen!«, schimpfte Yumi, wie mit zwei ungezogenen Kindern. Sie vergaß für einen Moment, dass ihr nur ein Mensch gegenüberstand. »Unser Wohnzimmer ist die reinste Chaosbude!« Damit übertrieb sie keineswegs! Der Boden war übersät mit Büchern und Äpfeln. Dazu kamen die Obstschale, das Wasserglas (ohne Wasser), das Tischtuch und die Ringelsocke. Sie hob einen Bildband über Schottland auf, der nur noch drei Ecken hatte. »Wir können froh sein, dass Herr Bektas nicht gleich die Polizei gerufen hat!«
»Soll ich den Notruf wählen?«, bot Hilde an.
»NEIN!«, riefen Cosmo und Yumi synchron. Beiden war klar: Das würden ihre Eltern ihnen nie verzeihen!
Und auf einmal konnte Yumi richtig streng gucken. »Los jetzt, alles aufräumen!«, bestimmte sie und ging zum Regal.
Doch Hilde nahm ihr das Buch aus der Hand und stellte es zurück. Dann ein weiteres und noch eins. Sie war flink! Ein Bildband nach dem anderen wanderte in seine Reihe, und zwar farblich sortiert. Auch Cosmo befolgte Yumis Anweisung! Er robbte über den Boden und sammelte Äpfel ein.
Als Hilde ihre Aufgabe erledigt hatte, griff sie in den Wäschekorb und faltete die Socken, Paar für Paar.
»Obercool!«, schwärmte Cosmo. »Ich sollte Hilde meine Räuberhöhle zeigen, damit …«
»Nichts da!«, rief Yumi bestimmt. »Hilde wird nicht dein Zimmer aufräumen! Sie muss jetzt …« Sie unterbrach sich, weil die Roboterdame mit den Socken fertig war und nun das Tischtuch vom Teppich klaubte. Sie tappte damit zum Blumentopf und ließ es auf die Yuccapalme fallen.
»Das Wohnzimmer ist aufgeräumt!«, verkündete Hilde blechern.
»Aber was …?«, stotterte Yumi verwirrt.
Cosmo bekam einen Lachanfall. »Hilde denkt, der Topf wäre unser Wäschekorb!« Er konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen.
Auch Yumi prustete los. Endlich fiel die Anspannung von ihr ab, die sie den ganzen Morgen über begleitet hatte. Sie lachte, bis ihr die Tränen kamen. Doch die Wanduhr verpasste ihr einen Dämpfer. Es war bereits kurz vor zwölf!
»Hilde, zurück in deine Kiste!« Yumis Stimme überschlug sich vor Aufregung.
Hilde verstand sie trotzdem und trottete los. Sie hatte wohl gelernt, dass sie auf dem Boden nicht rennen konnte.
»Mach schneller«, drängte Cosmo.
Als Hilde – ein gefühltes Roboterleben später – in ihre Kiste gestiegen war, schlug Yumi den Deckel zu.
»Es ist dunkel!«, beschwerte sich eine gedämpfte Stimme.
Doch in dem Moment kratzte ein Schlüssel im Türschloss.
»Bleib still!«, raunte Yumi. Sie wuchtete die Kiste auf den Stapel in der Zimmerecke und raste hinter Cosmo durch den Flur.
*
Als Mami kurz darauf das Wohnzimmer betrat, saßen die Geschwister schnaufend auf dem Sofa.
»Na, hattet ihr einen schönen Morgen?« Ihr Blick fiel auf die sortierten Sockenpaare. »Habt ihr etwa Wäsche gefaltet?«
»Ja genau, uns war sooo langweilig«, röchelte Cosmo, wobei seine Mundwinkel zuckten.
»Aha, was habt ihr sonst noch gemacht?«
Yumi kam ins Stottern: »Wir sind, ähm, nicht Roller gefahren. Wir haben auch kein Schiff gebaut. Wir wollten malen, aber das Papier liegt im Arbeitszimmer.«
„Und da liegt es immer noch“, ergänzte ihr Bruder wahrheitsgemäß.
»Habt ihr deshalb auf Cosmos Nase gemalt?«, fragte Mami mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie musterte den verräterischen Fleck. Dann hob sie verwundert ihren Fuß an, dessen Sockenspitze sich dunkel gefärbt hatte. »Warum ist der Teppich nass?«
»Da hat Hil…«, Cosmo unterbrach sich, weil er von seiner Schwester einen Knuff in die Seite bekam. »Also da hat Yumi ein Wasserglas fallen lassen!«, sagte er stattdessen.
In dem Moment kam Mama herein. »Ich möchte euch etwas zeigen!« Sie stellte einen Karton vor ihnen ab, zog ein schweigsames Wesen heraus und drückte in die fingergroße Vertiefung auf der Rückseite. Allerdings passierte nichts.
Yumi und Cosmo warfen sich unbehagliche Blicke zu.
»Nanu, der Akku ist leer! Das ist seltsam. Ich hab ihn erst heute Morgen geladen!« Mama versuchte es noch einmal, gab dann aber auf. »Schade, den muss ich auf der Arbeit austauschen.«
»Nein, Hilde soll hierbleiben!«, platzte es plötzlich aus Cosmo heraus. »Die gehört doch zur Familie!«
»Wie kommst du jetzt auf Tante Hilde?«, fragte Mama verwirrt.
»Nein, die Hilde!«, Cosmo zeigte auf den zierlichen Roboter. »Ich will sie behalten. Bitte, bitte, nimm sie nicht wieder mit ins Büro!«
Mama und Mami bekamen jetzt so große Kulleraugen wie die Roboterdame. Da konnte Yumi nicht anders. Sie erzählte ihren Eltern, dass sie heute Morgen hatte Malpapier holen wollen. Wie sie dort die wackelige Kiste entdeckt hatte. Dass Hilde die Wohnung erkunden wollte. Die Sache mit dem nassen Teppich, den Büchern und Cosmos weißer Nase. Einfach alles!
»Jetzt ist der Akku leer«, schloss Yumi kleinlaut ihren Bericht. »Entschuldigung!«
Mühsam hielt sie die Tränen zurück. Auf ihrem Herz saß ein tonnenschwerer Riesenroboter. Ihre Eltern würden sie bestimmt nie wieder alleine lassen!
»Sie hat Hilde gerettet«, stand Cosmo ihr plötzlich bei. »Wenn Yumi die Kiste nicht aufgefangen hätte, dann wäre Hilde jetzt doll verletzt!«
Yumi warf ihrem Bruder einen dankbaren Blick zu. Auch wenn der immer noch nicht zwischen verletzt und kaputt unterschied.
»Ich finde, du hast dich heldenhaft verhalten!«, überraschte sie Mama.
Yumi klappte der Mund auf.
»Ja wirklich! Du warst so mutig, meine Arbeit zu retten, ohne an dich selber zu denken. Wie eine echte Heldin!« Ihre Mundwinkel hoben sich. »Den Namen finde ich übrigens toll! Tante Hilde trägt doch auch so gerne orange.«
Cosmo nickte, sichtlich mit sich zufrieden und Yumi sprang der Riesenroboter vom Herzen.
»Erinnerst du dich, dass ich dir eine Idee erzählen wollte?« Mama wartete die Antwort nicht ab. »Ich dachte, du könntest Hilde mit zur Schule nehmen.«
Yumi starrte sie fassungslos an. Jetzt war sie doch übergeschnappt!
»Ich habe Roboter auf der Themenliste für die Referate gesehen.«
Na klar! Ihren Vortrag hatte Yumi über die Aufregung völlig vergessen. »Das ist klasse!«, rief sie begeistert. »Aber eine Sache müssen wir Hilde noch beibringen.« Neugierige Blicke folgten Yumi, als sie nun durch das Wohnzimmer schritt und das Tischtuch von der Yuccapalme zog. »Hilde muss lernen, was ein Blumentopf ist.«