Der walnussgroße Stein

Titelbild Der walnussgroße Stein Jola steht in Hausschuhen im Schnee
Jola will später Forscherin werden, um in die Fußstapfen ihrer Großmama Madaha zu treten. Noch ahnt sie nicht, dass sie beinahe in einem anderen – ganz besonders berühmten – Fußstapfen landet.

Jola kniete auf dem Ohrensessel vor dem Fenster. Die gelbe Häkeldecke ihrer Großmama Madaha lag schützend über ihren Schultern. Die kratzte etwas, aber sie hielt warm. Das Fenster war nämlich uralt und nicht mehr ganz dicht. Trotzdem war es Jolas Lieblingsplatz, weil sie von hier aus wunderbar die Sterne beobachten konnte.
Heute natürlich nicht. Denn es hatte angefangen zu schneien. Dicke Schneeflocken wirbelten um die Straßenlaterne vor ihrem Garten und hüllten die Bäume in glitzernde Schneekleider.
Im Flur knarrte eine Bodendiele. Es folgten Schritte auf der Treppe. Kurz darauf steckte Großpapa Napo den Kopf zur Tür herein.
»Du liegst ja noch gar nicht im Bett!«
»Ich studiere Schneeflocken«, antwortete Jola, ohne ihren Blick vom Fenster zu wenden. »Schau mal, die Flocke ist besonders dick!« Sie drückte ihre Nase gegen die kühle Fensterscheibe, die von ihrem Atem beschlug. »Wusstest du, dass Schneekristalle immer sechseckig sind? Das liegt an diesen winzigen Wasserteilchen!«
Napo lachte. »Du bist wie deine Großmama. Wenn ich aus dem Fenster schaue, erfreue ich mich einfach an dem prächtigen Anblick. Aber du und Madaha, ihr müsst immer alles ganz genau wissen.«
Jola fragte sich, was er damit sagen wollte. Konnte sie nicht etwas prächtig finden und genau wissen, wie es funktioniert?
Die dicke Flocke rutschte gemächlich die Fensterscheibe hinab. »Weißt du, wie lange es braucht, bis eine Schneeflocke von ihrer Wolke bis auf die Erde gefallen ist?«
Napo schüttelte den Kopf. Aber das bekam Jola überhaupt nicht mit. Sie starrte gebannt auf die rutschende Flocke, deren Ränder allmählich wässrig wurden.
Großpapa schob ein paar Steine auf dem Fensterbrett beiseite und setzte sich. »Reicht die Zeit, um eine Geschichte zu erzählen?«
»Was?« Jola hatte ihre Frage beinahe vergessen. »Ach so, na klar!«, rief sie begeistert. Napo kannte nämlich die spannendsten Abenteuer.
Sie schnappte sich einen Stein vom Fensterbrett. Mit jedem Einzelnen verband sie ein Abenteuer. Seit Jola bei Madaha und Napo eingezogen war – das war nun fast drei Jahre her – unternahmen sie jedes Wochenende einen Ausflug. Und immer sammelte Jola einen Stein. Jetzt wog sie das Exemplar in den Händen und kniff die Augen zusammen.
»Das ist nicht mein Stein!«, rief sie überrascht. Sie war sich absolut sicher.
Napo beugte sich zu seiner Enkelin und musterte den Stein in ihren Händen. Dabei strich er sich durch die grau-schwarzen Locken. Das tat er immer, wenn er nachdachte. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Oh, den kenne ich! Den muss Madaha beim Aufräumen liegengelassen haben. Zu dem Stein gibt es ein spannendes Abenteuer.«
»Bitte, bitte erzähl‘ es mir!«, bettelte Jola.
Zu ihrer Überraschung stand Napo auf. »Das mache ich nicht …«
»Warum nicht?«
»… bevor ich mir einen Tee geholt habe!«, sprach Napo seinen Satz zu Ende. Er lachte.
»Oh«, entwich es Jola. Da war sie mal wieder zu ungeduldig gewesen. Das passierte ihr öfter.
Napo stützte die Arme auf die Knie und erhob sich. »Warte einen Augenblick.«
Während Jola seinen Schritten auf der Treppe lauschte, glitt ihr Blick wieder zum Fenster. Die dicke Schneeflocke war inzwischen geschmolzen. Nun kauerte ein fetter Wassertropfen am Fensterrahmen. Doch der Wind blies unaufhörlich neue Flocken an die Scheibe. Der Anblick machte sie ein wenig schläfrig.
*
Jola zuckte zusammen. Was war das für ein Knall gewesen? War sie etwa eingeschlafen? Sie rieb sich die Augen und blinzelte ins dichte Schneegestöber. Da stand ein riesiges Ding, das wie eine Rakete aussah. Aber das war natürlich Quatsch! Sicher warfen die Bäume nur merkwürdige Schatten auf die Schneedecke. Was sollte eine Rakete in ihrem Dorf, an ihrem Bach, wo sich winzige Häuser aufreihten, als wollten sie miteinander kuscheln. Als angehende Forscherin würde sie nicht auf solche optischen Täuschungen hereinfallen!
»Wo bleibst du denn?«, fragte eine sanfte Stimme hinter ihr.
Jolas Blick schnellte zur Tür. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, was sie dort sah. Da stand ihre Großmama Madaha eingemummelt im Schneeanzug. Sie winkte Jola mit riesigen Handschuhen zu sich. »Na komm, wir haben nicht viel Zeit!«
Jola hatte ihre Großmama noch nie in einem Schneeanzug gesehen. Sie hatte überhaupt noch keine Oma im Schneeanzug gesehen. Doch bevor Jola etwas sagen konnte, stapfte Madaha die Treppe hinunter.
Jola sprang vom Sessel und folgte ihr. Die Häkeldecke flatterte hinter ihr her und fegte beinahe ein Foto von der Wand. Es zeigte ihre Großmama mit einem Helm. Kein Fahrradhelm, sondern ein Weltraumhelm! Madaha war nämlich eine Astronautin. Ihr letzter Flug war eine ganze Weile her. Doch wenn man einmal Astronautin war, blieb man das wohl für immer. Jola drückte den Bilderrahmen rasch gegen die Wand, damit die Weltraum-Madaha nicht vom Haken sprang. Dann stürmte sie die letzten Treppenstufen hinab, der echten Madaha hinter.
Im Wohnzimmer strömte Jola eisige Luft entgegen. Kein Wunder, wenn die Tür zum Garten offen stand. Seltsam. Hatte die jemand vergessen zu schließen? Nein, so zerstreut waren ihre Großeltern nicht. Vielleicht war Madaha nach draußen gegangen. Im Wohnzimmer war sie jedenfalls nicht.
Jola zog die Häkeldecke enger um sich und tappte in Hausschuhen hinaus in den Schneesturm. Sofort war sie von einem Schwarm Schneeflocken umhüllt. Sie tanzten ihr auf der Nase und den nackten Armen. Es fühlte sich an, als würde ein nasser Pinsel Tupfen auf ihre dunkle, warme Haut malen.
Nachdem sich Jolas Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, blinzelte sie. Nicht wegen der Schneeflocken, die ihr unermüdlich ins Gesicht wehten, sondern weil sie nicht glauben konnte, was sie da sah. Aber das Blinzeln änderte nichts an der Sache. Vor dem Bach stand eine richtige, echte, wahre Rakete. Die Bäume wirkten daneben wie mickrige Topfpflanzen und Madaha wie eine winzige Schneemaus.
Jola kämpfte sich durch den Schneesturm, der ihre Locken zerzauste. Ihre Hausschuhe blieben andauernd im Schnee stecken.
Endlich erreichte sie ihre Großmama. Da erkannte Jola, dass die überhaupt keinen Schneeanzug trug. Sie steckte in einem Weltraumanzug. So einem, wie der auf dem Foto im Flur.
»Beeil dich!« Madaha bückte sich und verschwand durch die Raketentür.
Jola zögerte. Sie würden doch nicht etwa mit diesem Riesending abheben. Brauchte es dafür nicht ein ganzes Team?
Einer von Madahas dicken Handschuhen tauchte in der Türöffnung auf und wedelte ungeduldig durch die Flocken.
Ohne weiter darüber nachzudenken, ließ sich Jola auf die Knie fallen und kroch über eine Rampe in die Rakete. Wie eine Schneemaus in ihre Höhle.
Sie landete in einem winzigen Aufzug. Sobald sie neben Madahas dickem Raumanzug steckte, fuhr die Röhre ratternd los und spuckte sie oben wieder aus.
In der Kommandokapsel war es so eng, dass Jola direkt auf einen Sessel plumpste. Sie zog die Füße ein, damit ihre Großmama nicht darüber fiel. Die nahm würdevoll neben ihr Platz. Es war Jola ein Rätsel, wie sie sich in dem massigen Anzug überhaupt bewegen konnte.
Neugierig sah sich Jola um. Die Kapsel war schwach beleuchtet und die Wände waren mit Knöpfen, Tasten und Hebeln zugepflastert. Es miefte nach uralter, verstaubter Technik.
»Schnall dich besser an, gleich wird es ungemütlich!«
Jola starrte Madaha mit großen Augen an. Das war verrückt! Die meinte das tatsächlich ernst. Sie griff nach der Metallschnalle, die ihr Madaha reichte, und drückte sie in die passende Buchse.
»Gut, jetzt starten wir die Maschine. Pass gut auf! Wer aufmerksam beobachtet, lernt immer etwas, was er später brauchen kann.« Madaha drückte auf einen Knopf und unter ihnen fing es an zu rumpeln. Halb wünschte sich Jola in ihr gemütliches Zimmer zurück und halb konnte sie es kaum erwarten, dass es endlich losging.
Sie beobachtete ganz genau, was ihre Großmama tat. Deren Hände flogen immer flinker über die mit Technik bestückte Wand, sodass Jola nach kurzer Zeit den Überblick verlor. Es sah furchtbar kompliziert aus. Aber Madaha wirkte keine Spur unsicher. Mit konzentrierter Miene drückte sie einen Knopf nach dem anderen.
»Jetzt bist du dran«, sagte Madaha auf einmal und zeigte Jola einen roten Hebel, der dicker als ihr Oberarm war. »Den musst du nach unten ziehen.«
Jola legte ihre Hand auf den Hebel und drückte. Er rührte sich nicht ein winziges Stück. Ein Blick zu ihrer Großmama verriet ihr, dass diese nicht helfen würde. Also probierte Jola es noch einmal. Sie umschloss mit beiden Händen das kühle Metall. Dann zog sie mit aller Kraft. Der Hebel gab nach und das Rumpeln unter ihnen donnerte plötzlich lauter als ein Drucklufthammer. Ein Ruck ging durch die Rakete, dann hoben sie schwankend ab.
»Jetzt bist du auch eine Astronautin«, verkündete Madaha anerkennend. Jola grinste verlegen.
Rasch nahmen sie an Fahrt auf und pflügten eine Schneise in das dichte Flockenmeer. Zumindest stellte sich Jola das so vor. Sehen konnte sie es nicht, weil die Rakete keine Fenster hatte. Die Beschleunigung drückte sie jedenfalls so kräftig in ihre Sitze, dass Jola nach Luft schnappte. Außerdem wurde sie vom Lockenkopf bis zu den Zehen in ihren Hausschuhen durchgeschüttelt.
Ihr Kopf dröhnte jetzt wie eine altersschwache Waschmaschine beim Schleudergang und ihr wurde schwindelig. Angst hatte sie aber keine! Jola vertraute Madaha. Sie würde niemals etwas Gefährliches mit ihr unternehmen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit flog die Rakete ruhiger und der Schwindel verflog. Jola warf einen Blick zu Madaha, deren Augen geschlossen waren. Vielleicht vertrug sie das Raketenfliegen nicht mehr so gut wie früher. Sie ließ ihre Großmama in Ruhe und beobachtete blinkende Lichtpunkte auf einem Monitor. Sie beugte sich nach vorn und entdeckte eine Reihe von Knöpfen, die Madaha vorhin nicht genutzt hatte. Sie zogen Jola magisch an. Einer strahlte so hell, als würde er darum bitten, endlich gedrückt zu werden. Darauf ließ sie sich selbstverständlich nicht ein. Sie würde hier nichts anfassen! Wer weiß, was dann passierte. Womöglich flogen sie in die falsche Richtung oder stürzten sogar ab. Jola schüttelte den Gedanken rasch ab. Trotzdem starrte sie weiter auf den schimmernden Knopf. Ob der sich so glatt anfühlte, wie er aussah? Sicher konnte sie sacht darüber streichen.
Da durchlief die Rakete ein Ruck. Jola flog nach vorne und stieß mit ihrer Faust gegen den Knopf. Der rastete lautstark ein und ein schabendes Geräusch erfüllte den Raum.
Was hatte sie getan? Mit wild hämmerndem Herzen drehte sie sich zu ihrer Großmama. Ob gleich etwas Fürchterliches passierte?
Madaha schüttelte den Kopf. Den Helm hatte sie abgenommen. »Jetzt kannst du dir den Drachen ansehen.«
Jola zuckte zusammen. »Fliegen hier Drachen?«
»Keine echten!« Madaha lachte schallend. »Der Schalter war für die Jalousie.«
Jolas Blick folgte der Hand, die Madaha über ihrem Kopf kreisen ließ. Ringsherum entdeckte sie Fenster, die eben noch nicht dagewesen waren. Sie hatten die Schneewolken kilometerweit unter sich gelassen. Vor ihnen lag der Nachthimmel, so klar, wie ihn Jola noch nie gesehen hatte. Tausend, nein, Milliarden Sterne leuchteten in der Dunkelheit.
»Der Drache!«, rief Jola überrascht. Sie streckte sich und zog mit dem Finger eine Verbindung zwischen den Sternen. Das Sternbild hatte Madaha also gemeint. Sie kannte die Sternkarte ihrer Großmama in- und auswendig. Wie oft hatten sie sich gemeinsam darüber gebeugt und spannende Geschichten zu den Sternbildern erzählt. Hier in der Rakete zu sitzen, war aber noch viel aufregender.
»Dort ist die Giraffe!«, rief Jola entzückt. »Und da drüben, siehst du den Walfisch und das Einhorn?«
Der Schreck war längst vergessen und die beiden suchten gemeinsam den Himmel nach ihren Lieblingssternbildern ab.
Plötzlich fiel Jola eine wichtige Frage ein. »Wo fliegen wir eigentlich hin?«
Madahas Blick wanderte zu einem Fenster über ihren Köpfen. Dahinter schwebte eine gigantische Kugel mit Hügeln und Kratern.
»Der Mond«, flüsterte Jola ehrfürchtig.
Madaha nickte und drückte wieder ein paar Knöpfe. »Wir sind gleich da. Zieh dich am besten schon mal um.« Ohne ihren Blick von den Knöpfen zu heben, zerrte sie an einer Schublade unter Jolas Sitz.
Darin befanden sich ein Raumanzug, ein Helm, Handschuhe und eine Sauerstoffflasche. Alles schien in Jolas Größe zu sein. Aber sie wunderte sich in dieser Nacht über gar nichts mehr.
In einer Rakete einen Raumanzug anzuziehen, war etwa so leicht, wie durch den Ärmel in ein T-Shirt zu schlüpfen. Doch als Jola den Sicherheitsgurt löste, wurde ihr Problem noch viel größer. Im Weltall gab es keine Schwerkraft wie auf der Erde. Deshalb schwebte Jola nun hilflos durch die Rakete, trieb vor die Tasten, die Madaha drücken musste und drehte sich um die eigene Achse. Sie vollführte einen wahrlich meisterhaften Tanz, während die Kugel vor ihrem Fenster immer größer und größer wurde. Madaha drosselte das Tempo.
Endlich schloss Jola den letzten Klettverschluss, schnallte sich auf ihren Sessel und schnaufte in den Helm. Schon stoppte die Rakete mit einem Ruck, der sie ordentlich in die Gurte drückte. Sie waren angekommen!
*
Jola wusste eine Menge über den Mond. Die Atemgeräte brauchten sie, weil es hier keine Luft gab. Helm und Anzug schützten sie vor der Kälte. Nur an ihren Füßen würde es wohl etwas frisch. Denn Jola trug immer noch ihre Hausschuhe. Weltraumschuhe hatte sie in der Schublade nicht finden können. Trotzdem fühlte sie sich bestens vorbereitet, als sie jetzt aus der Rakete kletterten.
Aber was war denn das? Kaum hatten ihre Hausschuhe die Mondoberfläche berührt, machte Jola einen unfreiwilligen Hopser. Sie ruderte mit den Armen. Dabei fiel ihr ein, dass die Schwerkraft auf der Erde sechs Mal höher war als auf dem Mond. Das hatte ihr Madaha erklärt. Doch sie hatte verschwiegen, dass man deshalb auf dem Hintern landete. Verdutzt rappelte sich Jola auf und sah sich um.
Die Mondoberfläche war hügelig und mit dunklem Pulver bedeckt: Mondsand. Überall lagen Steinbrocken, wie Spielzeuge, die jemand liegengelassen hatte. Nur hier konnte Madaha keinen zum Aufräumen verdonnern.
Unweit ihrer Rakete entdeckte Jola einen Fußabdruck. Ihr Herz machte einen Hüpfer. Dieser Abdruck musste von Neil Armstrong sein, dem ersten Menschen auf dem Mond. Das war über 50 Jahre her! Damals war Madaha noch ein Kind gewesen.
Jola drehte sich zu ihrer Großmama, um ihr den Fund zu zeigen. Doch bei deren Anblick vergaß Jola glatt ihre Entdeckung. Denn Madaha drückte sich mit den dicken Schuhen vom Mond ab und schlug ein Rad. Dann noch eins. Und ein Drittes. Ihre Großmama kreiselte ein ums andere Mal. So drehte sie elegant eine ganze Runde und stoppte erst wieder an der Rakete. Sie sah jetzt Jahre jünger aus, wie auf dem Foto im Flur, und ihre Zähne schimmerten wie klitzekleine Sterne.
Sie bedeutete Jola, es ihr nachzumachen. Warum eigentlich nicht? Mit so viel Kraft wie möglich, stieß sie sich an der Mondoberfläche ab und schlug einen Salto. Der Mond kippte einmal um sie herum. Ihre Landung war allerdings etwas holprig und ihr Hausschuh hinterließ einen deutlichen Abdruck im Mondsand. Direkt neben dem Fußabdruck von Neil Armstrong!
Beklommen huschte Jolas Blick zu ihrer Großmama. Aber die lachte. Da stimmte auch Jola mit ein. Gemeinsam hopsten und turnten sie über den Mond und lachten, bis ihnen die Tränen kamen. Jola wusste nicht, wann sie das letzte Mal so viel Spaß gehabt hatten.
Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, erkundete Jola den Mond. Sie hüpfte von Stein zu Stein, kletterte über Hügel und durchquerte Täler. Dabei vergaß sie völlig die Zeit und für einen kurzen Augenblick sogar ihre Großmama. Wo war die denn abgeblieben? Jola drehte sich im Kreis und ihr wurde flau im Magen. Sie entdeckte weder Madaha noch die Rakete. Das konnte nicht wahr sein! Warum hatte sie sich nicht den Weg gemerkt? Am liebsten hätte Jola lauthals nach ihrer Großmama gerufen. Aber das half ja nicht. Hier gab es nicht das kleinste Bisschen Luft. Also auch keine Schallwellen, die einen Hilferuf übertragen konnten.
Jola spürte Panik in sich hochsteigen. Diese kroch von ihren inzwischen eiskalten Füßen hinauf in den Bauch und weiter zum Hals, wo sich ein dicker Kloß bildete.
Da packte Jola ein übergroßer, weißer Handschuh und drehte sie um die eigene Achse. Wie in Zeitlupe schob sich Madaha in ihr Sichtfeld. Jola sprang ihr ungestüm in die Arme und brachte sie beinahe zu Fall. Großmama strich ihr über den Rücken. Obwohl Jola das unter dem Anzug kaum spürte. Wie lange hatte sie keiner mehr so auf dem Arm gehalten.
Nach einer Weile setzte Madaha Jola behutsam ab und Handschuh in Handschuh wanderten sie zurück zur Rakete.
Es war Zeit für den Rückflug. Ein letztes Mal ließ Jola ihren Blick über den Mond schweifen. Über die Hügel und Täler, über Felsbrocken und über den Mondsand, der alles in dunkles Grau hüllte. Da entdeckte Jola einen wunderschönen Mondstein neben ihrem Hausschuh. Sie bückte sich nach ihm, dann folgte sie Madaha in die Rakete.
Auf dem Rückflug zur Erde schälte sich Jola aus ihrem Raumanzug. Helm, Anzug, Handschuhe und Sauerstoffflasche stopfte sie zurück in die Schublade. Den Mondstein verstaute sie aber sicher in der Tasche ihres Schlafanzugs. Dann kuschelte sie sich zufrieden neben Madaha auf den Sessel. Nach der ganzen Aufregung war sie müde. Sie kämpfte eine Weile dagegen an, doch schon bald fielen ihr die Augen zu.
*
»Guten Morgen!« Napo lächelte Jola zu.
Verwirrt pendelte ihr Blick zwischen ihrem Großpapa und ein paar Planeten hin und her, die an ihrer Zimmerdecke hingen.
»Du bist gestern Abend im Sessel eingeschlafen«, erklärte Napo, »da habe ich dich ins Bett getragen.«
Jola rappelte sich auf und flitzte zum Fenster. Blasse Sonnenstrahlen blinzelten durch die verschneiten Bäume. Der Bach hatte sich in eine Eisschlange verwandelt. Doch weit und breit war keine Rakete zu sehen, auch kein Abdruck im Schnee und erst recht keine Großmama in Raumanzug. Hatte sie alles nur geträumt? Ihr Flug, der Mond und die turnende Madaha. Vielleicht hatte Napo ihr eine Geschichte erzählt und sie brachte das jetzt alles ein wenig durcheinander. Ratlos ließ sie sich auf den Sessel sinken.
»Komm, Großmama wartet mit dem Frühstück.« Napo wuschelte durch Jolas zerzauste Locken. Dann verließ er das Zimmer.
Als Jola aufstand und sich die Schlafanzughose glatt strich, spürte sie plötzlich etwas in ihrer Hosentasche. Sie griff hinein und zog einen dunkelgrauen Stein heraus. Nicht größer als eine Walnuss und von winzigen Löchern ausgehöhlt. Sie lächelte, während ihre Finger über die raue Oberfläche strichen. Denn in dem Moment wurde Jola klar, was ihr Großpapa gestern gemeint hatte. Sie musste nicht alles verstehen, um sich über etwas zu freuen! Behutsam legte sie ihren Schatz zu den anderen auf das Fensterbrett. Dann schlüpfte sie in ihre kuscheligen Hausschuhe und hüpfte die Treppe hinab in die Küche, dem Duft frischer Brötchen entgegen.