Der Kuschelohrenpulli
Kari braucht einen neuen Pullover, weil der alte zu klein ist. Deshalb fährt sie mit ihrer Familie in die Innenstadt. Dort aber findet sie keinen Pulli, sondern landet in einem aufregenden Abenteuer.
Die Geschichte gibt es jetzt auch als Hörfassung:
Kari rollte sich auf die Seite und tastete schlaftrunken nach ihrem Wecker. Der hatte sie aus einem Traum gerissen, in dem sie gerade mit dem flauschigsten Schaf der Welt gekuschelt hatte. Komisch, in den Ferien sollte ihr Wecker überhaupt nicht klingeln.
Endlich trafen ihre Finger das kühle Metall. Sie drückte auf den Knopf, aber der Lärm verstummte nicht. Jetzt erst – Karis Gedanken wurden allmählich klarer – fiel ihr auf, dass der Weckton ohnehin nicht passte. Sie hatte vor den Ferien das Glockenspiel eingestellt. Was sie jetzt aber hörte, klang wie das Rauschen eines dieser altmodischen Radios, wenn es keinen Empfang hatte. Mit einem Seufzer schüttelte Kari den Traum ab und hatte tatsächlich eine Idee, wo der Krach herkam.
Sie stieg aus dem Bett und tappte zum Fenster. Auf Fußspitzen balancierend bugsierte sie den Griff hinauf und ein Flügel schwang auf. Das Rauschen wurde lauter. Sie schob einen Arm nach vorne und es passierte das, was sie erwartet hatte. Ihre Hand wurde nass. Sie hatte also richtig getippt, es regnete. Und wie!
Kari sog die feuchtkalte Luft ein und lauschte. Nun nahm sie das Rauschen ganz anders wahr. Sie hörte verschiedene Einzelklänge heraus. Es machte einen Unterschied, ob Regentropfen auf die Straße, an die Fensterscheiben, auf Autodächer oder das Häuschen der Bushaltestelle prasselten. Mal klang es lauter, mal leiser, klarer, dumpfer, sanfter oder polteriger. Als habe der Himmel ein Lied geschickt – ein ziemlich kühles. Sie strich sich mit den Händen über die nackten Arme, wo sich winzige Hubbel gebildet hatten.
Anstatt das Fenster zu schließen, drehte sich Kari nach links, um einen Pulli aus der Kommode zu holen. Sie konnte den Inhalt der Schublade genauso wenig sehen, wie den Regen vor dem Haus. Deshalb tasteten ihre Hände, bis sie einen superweichen Stoff zu fassen bekamen. Der gehörte zu ihrem Kuschelpulli! Das Schild am Kragen nach hinten gedreht, zwängte sie ihren Kopf hindurch. Dann schob sie auch die Arme durch die passenden Löcher. Doch die Gänsehaut blieb. Die Ärmel waren nämlich zu kurz. Dran ziehen nützte nichts. Ihr Kuschelpulli war zu klein geworden! Sie behielt ihn trotzdem an, denn sie hatte noch etwas vor.
Mit genau fünf Schritten war sie beim Schreibtisch. Auf dem bewahrte sie ihren größten Schatz auf, den sie jetzt zum Fenster trug. Sie schob einen Schalter nach rechts, drückte den Aufnahmeknopf in der Mitte und hielt das eingebaute Mikrofon an den Mund: »Vierter Ferientag. Regen am Morgen«, sprach sie hinein und schwang das Gerät anschließend Richtung Fenster.
Kari sammelte akustische Erinnerungen. Also besondere Geräusche, Klänge, die Stimmen ihrer Eltern und Geschwister. Alles, was sie später noch mal hören wollte. Mama und Papa knipsten überall Fotos. Doch damit konnte Kari nichts anfangen. Deshalb hatte sie sich ein Aufnahmegerät gewünscht. Das ging zwar auch mit einem Handy, ihre Eltern fanden aber, sie wäre zu jung für ein eigenes. Außerdem müsste sie das mit einem Sprachassistenten steuern. Nicht gerade unauffällig.
Kari stoppte die Aufnahme und legte das Gerät zurück auf den Tisch, damit sie es später wiederfand. Früher hatte sie andauernd nach ihren Sachen gesucht. Inzwischen war sie ordentlicher als Holger und Imke, obwohl die vier Jahre älter waren.
Nachdem sie das Fenster geschlossen hatte, lockte Kari der Duft von frischem Kaffee aus dem Zimmer. Nein, den trank sie nicht selber! Aber der verriet, dass schon jemand in der Küche war. Auf Stoppersocken tappte sie die Treppe hinunter. Auch wenn sie die Stufen kannte, glitt sie mit einer Hand über das Geländer. So hatte sie notfalls etwas zum Festhalten.
In der Küche empfing sie ein vertrautes Klopfen. Das entstand, wenn man benutztes Kaffeepulver aus dem Sieb der Kaffeemaschine in die Biotonne klopfte.
»Guten Morgen, Papa!«, rief Kari im Türrahmen. Sie wusste immer ganz genau, wer den Kaffee kochte. Woran sie das erkannte, verriet sie ihren Eltern aber nicht. Mama schlug das Sieb dreimal kräftig auf den Eimerrand. Papa dagegen klopfte sanfter, dafür allerdings öfter.
»Du bist früh dran!« Papa nahm sie in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Dein Bart kratzt!« Kari wand sich aus der Umarmung und tappte zu ihrem Platz auf der Eckbank.
In dem Moment kamen die Zwillinge rein. Imke und Holger schwangen sich neben Kari auf die Bank, die knarzend unter ihrem Gewicht nachgab. Sie waren mitten im Gespräch.
»Ich muss gleich nach dem Frühstück los!«, sagte Holger gerade. »Die sind ruckzuck vergriffen.«
Kari konnte sich schon denken, wohin er musste. In die Stadtbücherei. Holger war ein Bücherwurm. Immer wenn der neueste Band einer seiner Lieblingsreihen rauskam, stürmte er noch am selben Tag dort hin.
»Na gut, ich komme mit«, sagte Imke, die überhaupt nicht gerne las, aber Weltmeisterin im Puzzeln war. Sie lieh sich nur Kartons mit mindestens 2000 Teilen. Doch wehe, es fehlte am Schluss eines, dann ging man ihr besser aus dem Weg.
»Ich komme auch mit«, verkündete Kari. »Ich muss einkaufen.«
»Du kannst doch nicht alleine in die Stadt«, zweifelte Holger.
»Warum nicht?«
»Na, du bist zu klein.«
»Ist nicht wahr!«, rief Kari. Sie ging immerhin in die zweite Klasse. »Schau mal, ich bin gewachsen!« Sie streckte die Arme aus, damit die anderen ihre kurzen Ärmel sahen, und stieß dabei ihr Glas um. Zum Glück war es leer, fiel aber trotzdem vom Tisch und zerbrach klirrend auf den Fliesen.
»Scherben bringen Glück!«, erklang es von der Tür.
Schritte näherten sich. Jemand strich über Karis Kopf und ein neues Glas schob sich in ihre Hand.
»Danke Mama!« Kari griff nach der Wasserkanne – die wie immer in der Tischmitte stand – und schüttete sich ein. Den Zeigefinger der anderen Hand hatte sie am Glasrand eingehakt. So konnte sie gefahrlos schütten, bis ihr Finger nass wurde.
»Macht ihr schon den Tagesplan?«, fragte Mama. »Marit braucht Windeln.« Karis kleine Schwester gluckste, wie zur Bestätigung.
»Prima, dann gehen wir zusammen«, rief Papa. »Ich kaufe mir neue Socken!«
Alle lachten. Denn das sagte er immer, wenn sie in die Stadt fuhren. Und jedes Mal vergaß er, welche zu kaufen.
*
Direkt nach dem Frühstück ging es los. Rucksäcke, Regenschirme und Jacken waren rasch zusammengesucht. Da weiterhin Regen an die Scheiben trommelte, entschied sich Kari für Gummistiefel. Sie griff ins Regal und angelte sich drei Schuhe aus ihrem Fach. Seit wann hatte sie drei Füße? Sie suchte nach dem aufgeklebten Etikett und ließ ihre Finger über die eingeprägten Pünktchen gleiten. Darauf standen ihre Vornamen in Brailleschrift, also in Blindenschrift.
»Holger, was macht dein Schuh in meinem Fach?« Kari hielt ihn hoch.
»Nur ein Besuch unter Schuhfreunden«, flachste ihr Bruder und schnappte ihr den Stiefel weg. »Hat jemand den zweiten gesehen?«
*
Minuten später legte Kari die Hand auf den Drücker der Ampel, der munter vor sich hin klackte. Er hieß eigentlich Fußgängeranforderungstaster. Wer bitte dachte sich solche Wörter aus! Bei jedem Auto, das vorbeidüste, verschwand das Klacken unter dem Lärm der Autoreifen. Die machten auf nassem Asphalt viel mehr Krach als sonst.
Als eine heftige Windböe durch die Straße fegte, rief Mama: »Das war’s dann mit meinem Schirm! Na, jetzt weiß ich jedenfalls, was ich mir in der Stadt kaufe.«
Das mochte Kari an ihr. Egal, was passierte, Mama sah in jeder Situation etwas Positives. Wie bei dem Glas, das vorhin runtergefallen war. Ob sie wirklich glaubte, dass Scherben Glück brachten? Immerhin war gerade ihr Schirm kaputtgegangen.
Endlich sprang das Signal der Ampel um und ein Piepen ertönte. Kari eilte an Mamas Hand über die Straße und die Treppe zum Bahnsteig hinunter. U-Bahnhöfe würde sie überall an dem muffigen Geruch erkennen. Sie klappte ihren Schirm zusammen und ließ die Spitze auf den Boden sinken. So war er ein passabler Ersatz für einen Langstock. Kari hatte auch einen richtigen Blindenstock. Aber mit beidem gleichzeitig unterwegs – also Langstock und Regenschirm – war eine echte Herausforderung. Irgendwann stieß man irgendwo gegen und wurde dann doch nass. Mit der Schirmspitze fuhr Kari nun die Fliesen entlang, bis sie an einer Rille hängenblieb. Die gehörte zum Blindenleitsystem. Es zeigte an, dass kurz dahinter der Bahnsteig zu Ende war, damit keiner auf die Gleise fiel.
Schon kündigte Wind die U-Bahn an. Ein Rattern schwoll an, die Bremsen quietschten, dann folgte das vertraute Schleifen, als die Türen auseinander glitten.
Kari fuhr gerne U-Bahn. Sie mochte das Geklapper im Kartenautomaten, das Ping beim Abstempeln und die Ansagen zwischen den Haltestellen. Am schönsten waren aber die Gespräche der anderen Fahrgäste. Die würde sie am liebsten mit ihrem Aufnahmegerät mitschneiden, doch ihre Eltern fanden das unhöflich. Also begnügte sich Kari damit, die Frauen hinter ihrer Rückenlehne zu belauschen.
»Ich brauche dringend eine Bluse«, verkündete eine von ihnen. »Die Hochzeit ist doch schon am Samstag.«
»Meinst du nicht, mit dem Strickjäckchen tut es noch die Alte?«, fragte die andere. »Es ist doch weiter Regen angesagt.«
»Du hast recht. Für einen Tag lohnt es sich nicht, das liebe Geld auszugeben. Bei dem Wetter kauf ich mir besser ein paar warme Socken!«
Kari kicherte. Dazu hätte ihr Papa sicher auch geraten. Leider erfuhr sie nicht mehr, wer Hochzeit feierte. Denn gerade kündigte die Stationsansage das Stadtzentrum an.
*
Sie teilten sich auf. Holger und Imke flitzten zu den Büchern und Puzzeln in die Bücherei. Marit und Mama besorgten Windeln und einen neuen Regenschirm in der Drogerie. Und Kari steuerte mit Papa auf ein Kaufhaus zu. Sie erkannte es an der Parfümwolke, die sie hinter dem Gebläse am Eingang empfing.
Als Papa die Rolltreppe ankündigte, rief Kari »Stopp!« und zog an seinem Ärmel. Sie kramte ihr Aufnahmegerät aus dem Rucksack und sprach eine Ansage auf: »Rolltreppe.« Dann tippte sie auf Papas Arm, damit es weiterging.
Das hatte sich Kari schon lange vorgenommen. Das Spannende bei Rolltreppen waren die Gespräche, wenn sich zwei Treppen in der Mitte kreuzten. Dann vermischten sich die Sätze der Menschen, die hinauffuhren, mit denen, die hinunterfuhren und es entstanden die komischsten Wortwechsel. Aber das würde sie später abhören. Oben angekommen, beendete Kari die Aufnahme und zog mit ausgestreckten Händen durch die Reihen mit den Pullis. Der Erste war zu kratzig. Der Zweite zu dünn. Der Dritte löchrig – warum auch immer! Dann kam einer mit Pailletten. Und so weiter und so fort. Über ihrem Kopf dudelte ein Lied nach dem anderen aus den Lautsprechern. Am letzten Stapel angekommen, tappte sie um die Kurve und tastete sich durch die nächste Reihe. Da stießen ihre Finger endlich auf etwas Flauschiges. Das war beinahe so weich wie ihr alter Kuschelpulli oder das Schaf in ihrem Traum.
»Den will ich anprobieren!«, rief Kari. »Gibst du mir meine Größe?«
Es kam keine Antwort.
»Papa?« Kari spitzte die Ohren. Sie glaubte, seine Stimme zu hören. Doch mit der Musik war es schwer, die Richtung auszumachen. Sie ging ein paar Schritte und lauschte wieder. Papa klang jetzt näher. Kari lief weiter. Doch da zog plötzlich der Boden unter ihren Füßen weg. Was sollte das denn? Sie glitt einfach davon. Erst als sich eine Stufe unter ihren linken Gummistiefel schob, traf Kari die Erkenntnis wie ein Donnerschlag. Sie fuhr Rolltreppe. Ganz allein! Die hatte sie bei der Musik völlig überhört. Mit ihren Eltern waren Rolltreppen keine große Sache, aber alleine schon. Das hatte sie einmal ausprobiert und statt dem Handlauf die Glaswand erwischt. Die Prellungen waren erst Wochen später ausgeheilt. Verzweifelt rief Kari nach Papa, doch ihre Stimme klang leise und zittrig. Keine Frage, sie musste sich selber retten. Sie klemmte sich den Pulli unter den Arm mit dem Regenschirm und tastete nach dem Handlauf. Als sie fündig wurde, krallte sie sich fest und hoffte inständig, dass sich der Schirm nirgendwo verhakte. Tief durchatmen, sagte sich Kari, während die Rolltreppe unermüdlich aufwärts ratterte. Denn sie wusste ganz genau: Der schwierige Teil kam erst noch! Und zwar flotter als erwartet. Schon flachten die Stufen ab. Kari nahm all ihren Mut zusammen und marschierte drauf los. Es klappte! Sie kam von der Rolltreppe, ohne hinzufallen. Hoffentlich hatte irgendjemand ihre Heldentat mitbekommen.
Eher nicht. Zumindest waren keine Stimmen in ihrer Nähe. Immerhin wusste Kari, in welcher Etage sie gelandet war. Es roch nach Pommes und Bratensauce. Sie stand also vor dem Kaufhaus-Restaurant. Hier hatten sie schon ein paar Mal gegessen. Und was nun? Jetzt wäre ein Handy praktisch!
Wenn wir uns mal verlieren, treffen wir uns an der Information, kam Kari ein Gespräch mit Mama in den Sinn. Allerdings wusste sie nicht, wo die Information war. Außerdem klemmte immer noch der Pulli unter ihrem Arm. Kari zog das flauschige Teil hervor und stutzte, als sie an zwei Knubbeln hängenblieb. Sie fühlten sich wie glatte Halbkugeln an. Vielleicht Knöpfe. Aber wozu war das Band auf der anderen Seite? Das hatte jedenfalls keine Knopflöcher. Außerdem fehlte das Loch am zotteligen Kragen. Wo sollte dann der Kopf durch? Stattdessen erfühlte sie Fellhügel, wie die Ohren von Kuscheltieren. War das etwa ein Kuschelohrenpulli? Kari lachte, als ihr klar wurde, was sie in den Händen hielt. Die Fellhügel waren tatsächlich Ohren, die Knöpfe waren Augen, das lange Band ein Schwanz und der zottelige Kragen eine Mähne. Das war überhaupt kein Pulli, sondern ein Kuschellöwe, bestimmt aus der Kaufhausdeko. Schön, dass sie nicht mehr alleine war.
»Ich nenne dich Puck, ja?«
Statt einer Antwort hörte Kari ein Ping. Das brachte sie auf eine Idee.
»Hör zu Puck, ich bring dich jetzt mit dem Aufzug zur Kinderabteilung zurück«, nuschelte sie in ein Kuschelohr, damit sie niemand hörte. Keiner sollte denken, dass sie ein kleines Mädchen war, das noch mit Kuscheltieren sprach.
Kari klemmte Puck wieder unter den Arm, ließ die Spitze ihres Regenschirms auf den Boden sinken und lief in die Richtung, aus der das Ping gekommen war. Schon bald traf sie auf eine Wand und fand den passenden Schalter.
Wenig später stiegen sie in den Aufzug. Kari strich über das Bedienfeld. Glück gehabt! Jede Taste war mit Zahlen in Brailleschrift versehen. Das Restaurant war in der fünften Etage, das wusste Kari. Oder war es die sechste? Nein, sicher die fünfte. Wenn sie also eine Etage mit der Rolltreppe gefahren war, musste sie jetzt zurück in die vierte.
Kurz nachdem der Aufzug losgesaust war – aber doch etwas länger als Kari erwartet hatte – blieb er wieder stehen. Viertes Obergeschoss, verkündete die Stimme über Lautsprecher.
Auch diese Etage empfing sie mit Musik. Doch bereits nach wenigen Schritten hörte Kari ein Gespräch.
»Die Technologie hat sich in den letzten Jahren enorm verbessert!«, sagte eine raue Stimme.
»Sind sie denn sicher, dass alles ohne Kabel funktioniert?«, hakte eine piepsige Stimme nach.
»Natürlich! Der eingebaute Akku hat eine hervorragende Leistung. Außerdem müssen Sie nicht in jedem Raum eine neue Steckdose suchen.«
Hier war nicht von Kleidung die Rede, das war Kari sofort klar. Sie hatte sich also völlig verfranzt. Wusste weder, wo die Kinderabteilung war, noch den Standort der Information. Musste sie nun irgendwelche Fremden ansprechen? Ihre Hände krallten sich fester in Pucks Fell und das Verkaufsgespräch verschwamm in ihren Ohren. Tief durchatmen, sagte sich Kari heute schon zum zweiten Mal und es half. Die Stimmen wurden wieder klarer.
»Darf ich Ihnen außerdem unsere rotierenden Polsterdüsen empfehlen?«, fragte die raue Stimme nun. »Wir haben auch Fugendüsen und Saugpinsel. Das Dreier-Set ist im Angebot!«
»Meinst du, die können uns helfen?«, flüsterte Kari dem Kuschellöwen zu. Sie war jetzt wirklich froh, ihn bei sich zu haben. Doch bevor Puck antworten konnte, verschwanden die Stimmen, die sich so angeregt über Staubsauger unterhielten, außer Hörweite. Diese Chance war verpasst!
»Ich habe eine Idee!« Kari kramte ihr Aufnahmegerät aus dem Rucksack. »Ich hab eine Aufnahme von der Rolltreppe«, klärte sie Puck auf, »vielleicht kann ich zählen, wie viele Etagen wir vorhin gefahren sind! Dann wissen wir, wo die Kinderabteilung liegt.«
Doch leider war das nicht so einfach. Denn in der Aufnahme mischten sich Geräusche und Gespräche mit der nervigen Musik. Kurz: Es war unmöglich, die Etagen zu zählen. Doch als Kari den Clip zum dritten Mal durchhörte, wurde sie plötzlich ganz kribbelig. Sie spulte ein Stück zurück und lauschte erneut: … dachte ich auch. Wir können uns wieder an der Information im Erdgeschoss treffen. So gegen … Die Uhrzeit war nicht mehr zu hören. Aber das war nicht wichtig. »Hör mal Puck, die Information ist im Erdgeschoss. Da fahren wir jetzt hin!«
*
Sie mussten nicht lange warten, da kündigte das vertraute Ping den Aufzug an. Rascher als vorhin fanden Karis Finger das Bedienfeld und drückten die Taste mit dem E und dem G.
»Echt blöd, dass mir der Lockenkopf das Buch vor der Nase weggeschnappt hat!«, sagte plötzlich eine hohe Stimme hinter ihr. Kari zuckte zusammen. Sie hatte vor Aufregung nicht daran gedacht, dass schon jemand im Aufzug sein könnte.
»Hoffentlich liest der schnell und muss nicht erst mit seiner Schwester das Puzzle legen«, antwortete eine ähnlich hohe Stimme. »Das waren über 2000 Teile!«
Karis Herz machte einen Hüpfer. Sprachen die beiden etwa von Holger und Imke? Selbst wenn nicht, waren sie offenbar Leseratten wie ihr Bruder.
Als nun die Ansage das Erdgeschoss ankündigte, nahm Kari all ihren Mut zusammen und sprach die beiden an: »Entschuldigung, könntet ihr mir helfen? Ich muss zur Information. Das ist für mich schwierig, weil ich blind bin.«
»Klar!«, sagte eine der Stimmen, »wir bringen dich hin. Du kannst gerne meinem Arm nehmen.«
Kari nickte erleichtert und ließ ihre Hand zu einem Oberarm führen.
*
Hallo«, sprach sie eine freundliche Stimme an, »wie kann ich dir helfen?«
Kari stand vor einem Tresen, der ihr bis zur Nasenspitze ging. Sie reckte die Nase dorthin, wo ihr der Duft von Vanille entgegenströmte. Sie erklärte, wie sie versehentlich Rolltreppe gefahren war, von der Etagen-Verwechslung und der Zickzackrunde bis zur Information.
»Da bist du ja ganz schön rumgekommen!« Die Stimme lachte. »Aber keine Sorge, wir werden deinen Papa finden. Ich heiße übrigens Monique.«
Die Info-Frau weihte Kari in ihren Plan ein. Und kurz darauf saßen sie gemeinsam hinter dem Tresen. Monique hatte Karis Hände auf einen Kasten gelegt.
»Magst du das selbst übernehmen?«
Kari nickte begeistert und ließ sich erklären, wie das Gerät unter ihren Fingern funktionierte. Monique hatte ihr glaubhaft versichert, dass sie damit alle Eltern wiederfanden. Worüber Kari gelacht hatte. Eigentlich war sie verlorengegangen und nicht ihr Papa. Jetzt beugte sie sich über Moniques Wunderkasten und drückte den Taster, bis es kurz knackte. »Hallo Papa, ich bin’s, Kari! Holst du mich ab?« Sie lauschte ihrer Stimme, die vom Lautsprecher durch die Etagen getragen wurde. War das aufregend! Sie war jetzt im gesamten Gebäude zu hören. Moment, sie hatte etwas vergessen. »Ich bin an der Information im Erdgeschoss.«
Monique tippte Kari auf den Arm. »Das hast du super gemacht! Du könntest später Moderatorin werden, beim Radio oder Fernsehen. Nein, besser im Internet. Meine Nichte sagt, dass man das heute so macht. Die hat nämlich eine eigene Sendung und …«
Eilige Schritte unterbrachen Moniques Geschichte.
»Da bist du ja!«, rief Papa. »Ich hab die komplette Kinderabteilung abgesucht!«
Kari sprang erleichtert vom Hocker und ließ sich in den Arm nehmen. »Hast du nach Pullis oder nach mir gesucht? Ah, dein Bart kratzt!«
Papa lachte. »Komm, die anderen warten.«
*
Wenig später saß die ganze Familie in der U-Bahn auf dem Heimweg. Auf dieser Fahrt hatte Kari keine Zeit, Fahrgäste zu belauschen. Denn Holger und Imke wollten haargenau hören, was sie erlebt hatte.
»Den akkubetriebenen Staubsauger hätte ich gerne ausprobiert«, sagte Imke.
»Au ja, mit der rotierenden Polsterdüse«, ergänzte Holger.
»Nein, besser mit dem Saugpinsel!«
Ihre Stimmen klangen abenteuerlustig. Aber Mama drückte Kari fest an sich. »Mein armes Mädchen, du hast dich bestimmt schrecklich einsam gefühlt!«
»Ich war ja nicht allein«, widersprach sie, »Puck war bei mir!« Als Kari von dem Löwen erzählte, füllten sich ihre Augen plötzlich mit Tränen. Sie hatte ihn in der Aufregung bei Monique liegengelassen. In ihrem Alter brauchte sie doch auch keine Kuscheltiere mehr, tröstete sie sich. Aber Puck war ein treuer Begleiter geworden, der ihr das ganze Abenteuer nicht von der Seite gewichen war. Selbst jetzt traute sich Kari nicht, das zuzugeben. Deshalb schluchzte sie in Mamas Jacke: »Einen neuen Pulli habe ich auch nicht!«
»Weißt du was, ich muss nachher mein Fahrrad aus der Werkstatt holen. Auf dem Rückweg kaufe ich dir einen Pullover«, bot ihr Papa an. »Außerdem hab ich die Socken vergessen!«
Der und seine Socken. Kari lächelte kurz.
Während die anderen weiter über ihren Ausflug plauderten, hing Kari ihren Gedanken nach. Sie landeten wieder beim Frühstück und ihrem Glas.
»Du Mama, ich glaube, Scherben bringen doch kein Glück!«
*
Vor der Haustür schüttelten alle ihre alten und neuen Regenschirme aus und tauschten Stiefel gegen Hausschuhe. Trotz des Schirms musste sich Kari Regentropfen aus dem Gesicht wischen. Vielleicht waren auch ein paar Tränen dabei.
»Wie wäre es mit einem Film?«, schlug Holger vor.
Kari stutzte. Wollte ihr Bruder nicht sofort lesen?
»Ja, lass uns einen Film ansehen«, stimmte Imke zu, als hätte sie kein neues Puzzle im Rucksack.
Da durchschaute Kari, was die Zwillinge vorhatten. Sie wollten sie aufmuntern. Vielleicht war ihr Lieblingsfilm jetzt wirklich genau das Richtige. Kari nickte dankbar.
Kurz darauf hingen sie zu dritt auf der Couch. Für Kari lief die Hörfassung. In der erzählte eine Sprecherin, was im Film zu sehen war. Natürlich nur, wenn gerade keiner sprach. Die Geschichte handelte von einem Eichhörnchen, das mit seiner Mundharmonika die Welt verzauberte. Die Klänge verscheuchten die Sorgen der Tiere und Kari hatte den Eindruck, dass die Magie auch bei ihr wirkte. Jedenfalls war ihr nicht mehr ganz so elend, als die Musik zum Abspann lief.
Da öffnete sich die Tür und Papa grüßte in die Runde. Mit ihm rauschte ein kühler Luftzug in den Raum. Er legte Kari einen Pulli auf den Schoß.
»Die Sternchen sehen super aus«, rief Imke.
»Danke Papa!« Karis Finger glitten über die Stickerei, die laut Imke Sterne waren. Sie fühlte sich glatt und trotzdem weich an. »Das wird mein neuer Lieblingspulli!«, verkündete sie tapfer, obwohl sie der Pulli an Puck erinnerte.
»Ich habe Monique getroffen.« Kari hörte ein Lächeln in Papas Stimme. »Sie hat mir etwas für dich mitgegeben!«
»Was denn?« Karis Magen begann zu kribbeln.
Etwas Kuscheliges landete auf dem neuen Pulli. Es hatte Augen, Ohren, einen Schwanz und natürlich eine Supermegaflauschmähne.
»Puck«, quietschte Kari und drückte den Kuschellöwen an ihre Brust. Jetzt war es ihr egal, was die anderen dachten. Wenn man so viel gemeinsam erlebt hat, schweißt das eben zusammen! Sie zog Papa kräftig am Arm, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. Der kratzige Bart machte ihr dieses Mal überhaupt nichts aus. Dann beugte sich Kari über Pucks Fellohr und flüsterte: »Morgen kaufen wir Papa Socken!«